Meine Sonnenbrille sitzt, ich habe mir die AirPods von einem Freund geliehen und trage meinen teuersten Anzug, frisch aus der Reinigung. Ok, ich musste erst einmal googlen, wo ich eine finde, aber ich fühle mich gut. Außer, dass die knöchelfreie Hose etwas zu eng ist. Ich nähere mich einer Hotellobby, ich meine Lindner am Empfang zu erkennen. Wir begrüßen uns und laufen Richtung Hotelrestaurant. Es scheint, als würde ich mehr Aufmerksamkeit auf mich ziehen, als Lindner. Mein krampfhafter Versuch, nicht aufzufallen, scheint jetzt schon missglückt.
Das Restaurant ist insgesamt sehr dunkel, im Hintergrund läuft leise Jazz. Wir sitzen uns mit Lindner gegenüber und wagen einen ersten Blick in die Speisekarte. Bei den Preisen fällt mir ein: „Glückwunsch, zum neuen Posten als Finanzminister. Muss sich der Scholz mit dem Kanzleramt zufriedengeben.“ Er bedankt sich leicht verwundert. „Naja, das Finanzministerium in der Hand Ihrer Partei… da brauchen wir ja keine Regierung mehr. Wie sagt man so schön: Der Markt regelt alles.“ Er schmunzelt leicht, streicht sich durch die Haare, sodass die Rolex unter den Manschettenknöpfen seines Anzugs hervorscheint. Ich streife unter dem Tisch unbemerkt meine Uhr ab, zwar eine sehr originalgetreue Fälschung, aber eben eine Fälschung.
Die Liberalisierung des Abendlandes
„Sie haben auf dem Parteitag der FDP von der größten Liberalisierung seit den 70ern gesprochen. Das heißt weitere Privatisierung und der Abbau des Sozialstaats. Und, dass der Koalitionsvertrag für die Erneuerung des liberalen Bildungs- und Aufstiegsversprechens stehe. Es würde uns ein gesellschaftlicher Aufbruch bevorstehen.“ Er holt aus, mir fällt auf, dass Begriffe, wie Digitalisierung, Innovation und das Verwirklichen von Träumen immer wieder aufkommen. Ich muss sagen, seine Wortwahl und Gestik sind schön gestaltet, aber inhaltlich leer. Fast so wie die FDP-Wahlplakate, auf denen eigentlich immer nur Lindner zu sehen war. Hätten auch Werbeplakate für die neue Zara Herbstkollektion sein können. Aber zurück zum Thema: „Ehrlich gesagt wird mir schlecht, wenn Sie behaupten uns stünde die größte Liberalisierung bevor.“ Er sieht mich an, als hätte ich ihn oder jemanden aus seiner Familie persönlich beleidigt. „Ich helfe Ihnen mal auf die Sprünge: Seit Jahrzehnten wird unser Sozial- und Gesundheitssystem systematisch abgebaut. Immer mehr Menschen versacken in Jobs, die kaum Miete zahlen. Es ist zum alltäglichen Stadtbild geworden, dass Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet haben, nun auf der Suche nach Plastikflaschen Mülleimer durchwühlen müssen, da die Rente nicht reicht.“ Ich muss kurz stoppen, der Kellner kommt. Lindner bestellt sein Essen, das meiste, hat französische Namen. Ich rechne in meinem Kopf, wie viele Pfandflaschen sein Abendessen wert ist. Spätestens jetzt fühle ich mich unwohl im Hotelrestaurant. Der Kellner schaut mich erwartungsvoll an. „Für mich nur einen Jasmintee, danke.“ Cay gibt es hier leider nicht.
Das Märchen vom Aufstieg
„Glauben Sie wirklich, dass jeder Mensch es vom `Tellerwäscher zum Millionär` schaffen kann?“ Er nickt. Mit dem nötigen Ehrgeiz, harter Arbeit und ein bisschen Glück könne jeder Mensch seine Träume verwirklichen. Es gehe vor allem darum, dass die Politik keine Schranken setzen dürfe. „Ich muss gerade an Menschen denken, die über 30 Jahre ihres Lebens in Fabriken gearbeitet haben, um dann auf die Straße gesetzt zu werden, da die `Gewinne des Unternehmens nicht stimmen`. Was ihnen bleibt ist eine mickrige Abfindung und gesundheitliche Probleme von den schlechten Arbeitsbedingungen. An Ehrgeiz und harter Arbeit hat es ihnen nicht gefehlt. Gefehlt hat es ihn an Glück.“ Er stimmt zu, manchmal ließe das Glück nun mal lange auf sich warten. „Sie verstehen mich falsch. Was Sie als ein bisschen Glück bezeichnen ist nichts anderes als die Frage nach dem Geldbeutel.“ Schnell möchte er einwerfen, dass man an einzelnen Beispielen keine allgemeine Kritik formulieren könne. „Allein unsere Marktwirtschaft als `sozial` zu bezeichnen ist an Zynismus nicht zu übertreffen. Für den individuellen Erfolg gibt es nur eine Voraussetzung: Entweder man hat Patte, kann sich eine gute Bildung leisten, muss sein Studium nicht von seinem Wohnort ausmachen und so viel arbeiten, dass man nur noch nebenbei studiert und am Ende klärt ein reiches Elternteil über paar Kontakte einen schmierigen Job oder man hat halt keine Patte. Dieses ganze System ist darauf aufgebaut, dass diejenigen, die das nötige Kleingeld haben, von Anfang an 10 Schritte voraus sind. Am Ende spricht man dann von Chancengleichheit, da alle dieselbe Zielgerade haben. Wo man startet, ist ja Nebensache. Und ich möchte sehen, wie Sie sich vor einen Menschen stellen, der in Nachtschicht Schwerarbeit leistet oder eine Pflegekraft und sagen, dass Sie einfach härter arbeiten müssen, um ein besseres Leben zu haben.“ Lindner hört mir leise zu. Erstaunlich für einen Menschen, der sich selbst eigentlich am liebsten zuhört. Apropos…
„… eine Sache für Profis.“
„Ich muss zugeben, mich hat der Anteil an Stimmen, die die FDP von jungen Menschen bekommen hat, überrascht. Naja, ich muss auch zugeben, dass Sie mit Themen, wie Digitalisierung, Startups und Entbürokratisierung, viele Stimmen gelockt haben.“ Er scheint sichtlich stolz. Die Jugend sei ja die Zukunft des Landes und müsse gefördert und gefordert werden. „Noch vor 2 Jahren haben Sie noch über die Fridays for Future Demos gesagt, die Kinder hätten nicht das nötige Wissen, um beim Thema Umwelt mitzusprechen und sie sollen die Profis ranlassen.“ Mein Tee ist mittlerweile kalt. Er roch von Anfang an sehr befremdlich. „Es ist nicht so, dass Sie sich in den letzten 2 Jahren verändert hätten. Sie haben nur gemerkt, dass die Stimmen von uns jungen Menschen wichtig für Sie sind. Ich habe mir einen Blick in Ihr Wahlprogramm erlaubt. Ich kann es kaum glauben das zu sagen, aber unsere Probleme werden sich nur noch weiter vertiefen. Denn uns erwartet nichts anderes als eine Politik der Reichen. Unter dem Deckmantel der Aufstiegschancen erwartet uns eine weitere Kürzung des Sozialstaates, denn ´alle sollen die Möglichkeit des Hinzuverdienstes` haben. Unter dem Deckmantel der flexiblen Zeitgestaltung werden noch höhere Arbeitszeiten auf uns zukommen. Und unter dem Deckmantel der Schulautonomie wird der Niveauunterschied zwischen Eliteschulen und unseren Schulen noch größer.“ Ich merke, wie ich lauter werde.
Die eigentlichen Schranken
„Das ganze Wahlprogramm, die FDP und Sie selbst sind die Personifizierung der Politik, die für die Reichsten dieser Gesellschaft gemacht wird. Eine Politik, die demjenigen, der bei Monopoly sowieso schon die meisten Hotels gebaut hat, noch 3 dazu schenkt. Ich weiß, dass Sie meine Meinung nicht interessieren wird, aber Ihre Politik bringt die eigentlichen Schranken mit sich.“ Lindner schaut mich verdutzt an. Ich rede ihm schnell rein: „Sie legen die Schranken, die unsere Armut weiter vertiefen und die Zahl der Verlierer weiter erhöhen. Die Schranken, die unseren Weg zu einer besseren Bildung und guten Jobs versperren. Aber wir werden diese Schranken durchbrechen und uns ein besseres Leben schaffen.“ Ich lege mir meine gefälschte Uhr um den Arm und merke, dass nicht nur der Jasmintee mir befremdlich, sondern ich auch meiner ganzen Umgebung fremd war. Ich schwöre mir, den schmierigen Anzug nie wieder zu tragen und freue mich auf meine Jogginghose. Ich verlasse das Hotel, drehe mir meine Kippe und mache mich auf zur nächsten Dönerbude.